Sebastian Fitzek lässt sich beinahe als Michael Bay oder John McTiernan der deutschen Krimiszene umschreiben, auch wenn der Vergleich ein wenig hinkt: Seine Bücher sind durchdachter und sinniger als die Hollywoodschen Blockbuster. Was die beiden verbindet sind die schnellen Schnitte und das rasende Erzähltempo, das den Leser unweigerlich an die Story fesselt. Der Unterschied liegt in den Plots begründet: Fitzek versteht es, intelligente Wendungen einzubauen, die durchaus in der Lage sind zu überraschen. Dies war schon in seinem Erstlingswerk Die Therapie der Fall; und auch sein sechster Roman Der Augensammler steht dem in nichts nach.
Die Handlung: In Berlin wird eine perverse Abwandlung des ältesten Kinderspiels der Welt gespielt: Verstecken. Zuerst tötet der Mörder die Mütter, dann entführt er die Kinder und lässt schließlich den Vätern 45 Stunden Zeit, ihre Sprösslinge zu finden. Sollten die Entführten nicht innerhalb der Zeitvorgabe lebend gefunden werden, so werden es nach Ablauf des Ultimatums ihre Leichen. Keine Anzeichen sexuellen Missbrauchs, aber jedem der Kinder wurde das linke Auge entfernt, wodurch der Mörder zu seinem Spitznamen kam: Der Augensammler.
Alexander Zorbach ist Journalist, Ex-Polizist und Hauptcharakter der Romanhandlung. Die Connections durch seinen früheren Job erleichtern ihm die Berichterstattung über den Mordserie, da er oft Informationen vor anderen Journalisten erhält. Über Polizeifunk erfährt er vom vierten Tatort des Augensammlers, den er prompt aufsucht. Dort angekommen verdächtigen ihn seine alten Kollegen plötzlich, denn angeblich wäre nichts über Funk bekanntgegeben wurden. Auch die Tatsache, dass seine Brieftasche am Tatort gefunden wird lässt an seiner Unschuld Zweifel aufkommen, weswegen Zorbach beschließt, zum Nachdenken unterzutauchen. Aber anstatt Einsamkeit erwartet ihm die blinde Alina in seinem Versteck, die er angeblich zu sich bestellt hätte — und die ihm erklärt, sie hätte durch die Augen des Augensammlers die Morde gesehen. Schnell zeichnet sich ab, dass Alinas Gabe mehr zu sein scheint als eine wichtigtuerische Einbildung. Denn die Informationen, die sie Zorbach gibt, stellen sich auf Nachfrage bei seinen alten Kollegen als richtig heraus — und machen Zorbach zum Hauptverdächtigen, da er über Täterwissen verfügt, welches er nicht haben sollte.
Eine Besonderheit des Buches ist die Seitennummerierung und die Kapitelzählung: das Buch beginnt mit dem Epilog auf Seite 439 und zählt sich dann 84. Kapitel rückwärts durch die Handlung. Die Gestaltung korreliert mit dem Inhalt, was dem Leser aber erst auf den letzen Seiten bewusst wird, weil dann wirklich erkennbar ist, warum genau diese ungewöhnliche Zählweise für diesen Roman die Richtige ist. Zum Lesen empfand ich die umgekehrte Seitennummerierung sogar als ausgesprochen angenehm, da mit einem Blick ersichtlich war, wieviel von dieser Spannung noch übrig blieb und wann mit dem erlösenden Ende zu rechnen wäre.
Neben dieser gestalterischen Besonderheit ist auch der Moloch Berlin eine gute Wahl für die Kulisse. Da treibt in dieser Millionenstadt ein Psychopath sein Unwesen, was in jeder Kleinstadt für atmenlose Anspannung sorgen würde, da jeder das Gefühl hätte der Nächste zu sein — aber Berlin lebt einfach weiter vor sich hin. Lediglich das Leben der betroffenen Opfer und Angehörigen sowie der ermittelnden Beamten wird tangiert, während der Rest sich an den Sensationen der spektakulären Mordserie erfreut als wäre es ein neuer Teil von Stirb Langsam. Dies wird zwar an keiner Stelle des Romans wörtlich benannt, aber es schwingt die ganze Zeit mit. Zumindest auf mich wirkte das leicht unheimlich, als ich mir dessen bewusst wurde.
Die Charaktere sind routiniert ausgearbeitet. Sowohl Zorbach als auch Alina haben ihr Päckchen zu tragen. Beide sind eher gebrochene Charaktere mit interessanten Hintergrundgeschichten, welche gut ihre Motivationen in den entsprechenden Szenen erklären. Besonders herausstechend empfand ich aber den Augensammler, dessen Hintergrund mir sehr gefallen hat: Das “Spiel” und die Art, wie es abläuft, ist nicht einfach nur ein effekthascherisches Mittel zum Zweck, sondern es hat eine eigene, plausible Geschichte, die in der Vergangenheit des Mörders wurzelt.
Auch die “Mystery”-Elemente (der angeblich nicht erteilte Polizeifunk, der Zorbach an den vierten Tatort führt; die Brieftasche, die an eben diesem Tatort gefunden wird; Alina, die angeblich von Zorbach in sein Versteck bestellt wurde) wissen zu gefallen. Sie erinnern mich ein wenig an die erste Staffel von Dexter, die ich gerade wegen ihres leicht übernatürlichen Charakters besonders schätze. Und wie die Autoren der Fernsehserie schafft es Fitzek hierfür eine glaubhafte und sinnige Erklärung zu liefern.
Unterm Strich bleibt ein spannender Roman, den man ungern aus der Hand legt und am Liebsten am Stück lesen würde, sofern man dazu die Zeit hat. Fitzek schreibt Spannungsgeladene und intelligente Psychothriller und schafft es, den Leser auf’s Glatteis zu führen. Bewusst lässt er Figuren aus Der Therapie auftreten und rote Heringe auslegen um dann mit einem großen Feuerwerk eine runde Geschichte abzuschließen, die verdammt Lust auf eine Fortsetzung machte. Diese ist inzwischen unter dem Titel Der Augenjäger erschienen und wird sicherlich bald den Weg in mein Bücherregal finden.
Auf einer Skale von 1 bis 10 vergebe ich für diesen Roman eine gute 9.