Nachdem ich schon vor einiger Zeit von Dan Simmons Hyperion geschwärmt habe folgt jetzt die Rezension zum ersten Band.
1989. Die Science Fiction hat sich verändert. Die epochalen, dynastischen Großerke wie Asimovs Foundation-Trilogie, Herberts Wüstenplanet oder Lucas Star Wars sind vollendet. Mit ihnen erlosch auch das Genre der Space Opera, jener groß angelegte Zukunftsentwurf, der die unendliche Leere zwischen den Sternen vergeblich zu bevölkern versuchte. Bevölkert vom Wesen Mensch, der sich auch in der fernen Zukunft und zwischen den Welten noch nicht selbst ausgerottet hat und sein Überleben zu sichern versucht. Obwohl gefangen in einer grenzenlosen Einsamkeit und verlassen von Gott und Göttern ist es doch eine optimistische Einschätzung, dass unsere Kultur des Technischen uns einen Untergang der Erde würde überstehen lassen. Insofern kann die Space Opera als Ausdruck eines fortschrittsgläubigen Optimismus gewertet werden.
Diese Bewertung des Technischen als Retter einer ansonsten zum Aussterben verdammten Spezies ist Ende der 80ziger alles andere als en vogue. Der politische Pessimismus hält Einzug in das Genre und verändert es nachhaltig: Der Cyberpunk wird geboren. Der Mensch ist gefangen auf seiner kleinen Welt, die im Müll einer ständig wachsenden Gesellschaft zu ersticken droht. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben und Macht konzentriert sich in einigen wenigen, scheinbar omnipotenten Firmen, die alles und jeden zu kontrollieren versuchen. Es gibt Widerstand, aber ähnlich wie die London Riots ist dieser nur spärlich politisch motiviert: Die Aufständischen wollen ihren Anteil vom Kuchen, weil sie sich von der Upper Class abgehängt fühlen und diese um ihre Statussymbole neiden; nicht für alle, sondern für sich selbst. Für dieses Ziel schrecken sie auch nicht vor kriminellen Aktivitäten zurück. Ihre Motivation ist Überleben und Besitzen — und darüber hinaus gibt es wenig. Das Morgen wird genauso scheiße sein, wie das heute; aber ein wenig mehr Geld könnte es erträglicher machen. Same shit, different day.
In diesem Umfeld erschien Dan Simmons Space Opera Hyperion, die auf Grund ihrer Thematik von Beginn an in der Flut der Cyberpunk-Veröffentlichungen unterzugehen drohte. Dass es dennoch zu einem Klassiker avancierte zeugt von der Qualität des Werkes.
Hyperion ist das erste von insgesamt vier Büchern, das in diesem Universum spielt, und bildet mit dem Band Der Sturz von Hyperion eine zusammenhängende Geschichte, während die beiden “Endymion”-Bände Pforten der Zeit und Die Auferstehung eine zweite Erzählung darstellen. 2800 Seiten geballter Space Opera der Extraklasse, von denen hier die ersten 700 Seiten besprechen werden sollen.
[caption id=“” align=“aligncenter” width=“400”] Dan Simmons, Autor von Hyperion. Bild von Stanke13alf, lizenziert unter der CC 3.0 BY-SA. Für weitere Informationen bitte auf das Bild klicken.[/caption]
Im 29. Jahrhundert nach Christus. Hyperion ist der Name eines Planeten außerhalb des Netzes, was im Wesentlich bedeutet, dass er von der Zivilisation abgeschnitten ist. Es gibt keine Farcaster-Anbindung, die zeitverlustfreies Reisen ermöglichen würde. Wer sich auf den Weg nach Hyperion begibt, der lässt die Familie und das gesamte soziale Umfeld zurück, da diese altern, während man selbst im Kälteschlaf liegt. Diese Zeitschuld sorgt dafür, dass nur nach Hyperion reist, der dort wichtiges zu erledigen hat.
Dieser Umstand allein macht die Welt aber noch nicht zu etwas Besonderem, denn Randwelten gibt es viele. Aber nur auf Hyperion befinden sich die Zeitgräber, Relikte einer fernen Zukunft, die auf Grund einer physikalischen Anomalie rückwärts durch die Zeit reisen. Veränderungen im Anti-Entropiefeld, die die Zeitgräber umgeben, deuten daraufhin, dass sich die Gräber demnächst öffnen werden — sozusagen ihre Zielzeit erreichen und ihren temporal verschlossenen Inhalt preisgeben.
Was sich in den Gräbern befindet, lässt sich nicht sagen. Vielleicht das Shrike, ein mordlüsternes Wesen, welches im Umfeld der Zeitgräber sein Unwesen treibt und um das sich ein religiöser Kult gebildet hat? Noch scheint es durch die Anti-Entropiefelder gefesselt zu sein und einen eingeschränkten Aktionsradius zu besitzen — aber was, wenn dieser fällt?
Doch dies alles ist in Hyperion nur Staffage, denn das Buch ist die Geschichte der letzten Pilger des Kults des Shrikes. Pilgerreisen zu den Zeitgräbern waren, bis sich dort Anomalien bildeten, keine Seltenheit, auch wenn die meisten Pilger die Rückreise nie antraten und durch das Shrike den Tod fanden; wer aber vor das Monster tritt, der darf der Legende nach einen Wunsch äußern, der eventuell erfüllt wird. Doch seit Monaten wird jedes Gesuch auf eine Pilgerreise abgelehnt. Bis auf jene, die in “Hyperion” geschildert wird.
Sieben Pilger, die sich nicht kennen, machen sich auf den Weg. Ein Diplomat. Ein Tempelritter. Ein Gelehrter mit seiner kleinen Tochter. Ein Dichter. Ein Priester. Ein Soldat. Eine Privatdetektivin. Alle wurden vom Kult und der Regierung für diese Pilgerreise auserwählt und jeder von ihnen hat eine persönliche Verbindung zu Hyperion. Und genau diese Verstrickungen bilden den Inhalt des ersten Bandes.
Während der Reise zu den Zeitgräbern verbleiben Stunden, in denen die Pilger zum Nichtstun verdammt sind. Auf einem Baumschiff der Tempelritter, welches sie nach Hyperion bringen soll, beschließen sie, sich ihre Geschichten zu erzählen und losen die Reihenfolge aus. Der Rest des Buches besteht dann aus den Lebenserzählungen der Protagonisten, unterbrochen von kurzen Schilderungen, wie sie sich unaufhaltsam den Zeitgräbern und damit dem Shrike nähern.
Auch wenn es im ersten Moment nicht spannend klingt: Genau das ist es aber! Simmons überrascht mit einem Detailreichtum, der auf ein gigantisches und sehr gut ausgearbeitetes Universum schließen lässt. Überall gibt es Neues zu entdecken. Dies reicht von großen Raumschiffen wie den anscheinend lebenden Baumschiffen der Tempelritter, über Mythisches in Gestalt von Zeitgräbern und dem Shrike bis hinunter zu “Kleinigkeiten” in Technologien wie Farcaster-Portalen, die zeitverlustfreies Reisen ermöglichen und Häuser entstehen lassen, deren Räume sich über mehrere Welten erstrecken.
Aber auch dieser schimmernde Diamant der Imagination ist wenig im Vergleich zu der Perfektion, mit der Simmons seine Charaktere glaubhaft aufbaut und beschreibt. Die Lebensgeschichten sind spannend, traurig, nachvollziehbar, lustig, actiongeladen. Menschlich. Die Motivation einer jeden Pilgerreise wird ebenso offenbar wie die Details des Universums, die sich nach und nach zu einem schlüssigen Bild formen. Darüber hinaus gibt sich Simmons als Autor alle Mühe und wechselt den Erzählstil von Charakter zu Charakter. Der Priester erzählt bildlich, während der Soldat kurz und knapp bleibt. Der Dichter setzt sein Leben in epischer Breite in Szene und würzt die Highlights mit Lyrik. Der Gelehrte erzählt im unaufgeregten Tonfall eines Akademikers die herzzerreißende Geschichte seiner Tochter Rachel. Und dem Konsul umgibt ein großes Geheimnisses.
Diese Schilderungen sind es, die nachvollziehbar machen, warum Stephan King Dan Simmons um seine Schreibe beneidet. Auch in der Übersetzung überzeugen Stil, Bildgewalt, Erzählung und Spannung. Hyperion ist ein geheimnisvoller Sog, der den Leser ebenso in seinen Bann zieht wie die Pilger, die sich dem Ungewissen entgegen stellen und alle ihr Kreuz oder ihre Kruziform zu tragen haben.
Zusammenfassend ist Hyperion schlicht ein Highlight der erzählenden Science Fiction, das zu lesen viel Freude bereitet. Es ist der futuristische Gegenentwurf zu George R. R. Martins A Song of Ice and Fire, welches derzeit in der HBO-Verfilmung ungeahnte Erfolge feiert. Auch Hyperion hätte diese Aufmerksamkeit verdient — auch, weil die visuelle Gewalt des Werkes überwältigend sein muss, wenn eine annähernd adäquate Umsetzung angestrebt werden sollte.
Hyperion ist als Doppelband zusammen mit Der Sturz von Hyperion unter dem Titel Die Hyperion-Gesänge im Heyne-Verlag erschienen und im Handel erhältlich. Eine frühere Ausgabe als Einzelband ist antiquarisch erhältlich.